DAS ROSAFARBENE MAL

 

Schon seit ein Paar Jahren bin ich als Tonmeister im örtlichen Radio eingestellt. Meistens fallen mir Kontaktsendungen zu. Die älteren Kollegen gehen nämlich solchen Sendungen aus dem Weg, weil sie eine ständige Anwesenheit am Mischpult voraussetzen.
Für diese Art von Sendungen hatte sich, nicht ohne Neid der restlichen Moderatoren, unsere Kollegin Nadja spezialisiert. Sie ist ein Paar Jahre älter als ich und, Sie können mir ruhig glauben, sie sieht underschön aus.
Ohne zu blinzeln sehe ich Nadja zu wie sie das Studio betritt. Währenddessen lasse ich es so aussehen, als würde ich mich mit der Vorbereitung einiger Jinglebänder herumschlagen. Obwohl sie durchaus nicht sparsam mit ihrem Lächeln umgeht, behaupte ich, dass dieses eine, das sie ab und zu an mich richtet besonders viel Charme und Intensität besitzt.
Nur das Glasfenster trennt uns.
Sie setzt sich an den Stuhl, rückt lange und vorsichtig die Kopfhörer zurecht und versucht dabei ihre Frisur nicht zu zerstören, passt den Abstand zwischen dem Mikrofon und ihrem vulkanartigen Mund an, prüft ob jedes Detail an ihrem Outfit sitzt, als wäre sie nicht beim Radio sondern stünde vor Kameras. Dann steckt sie mit einer blitzschnellen Handbewegung ihre widerspenstige Haarsträhne hinter die Ohrmuschel. Sobald ihre Hand jedoch loslässt, schnellt diese siegreich wie eine Fahne wieder auf. Je öfter Nadja diese Bewegung wiederholt, desto unruhiger und verspielter wird die Haarsträhne. Mit dieser Handbewegung beendet sie das übliche Ritual vor dem Beginn der Sendung. Plötzlich hebt sie ihren Blick unerwartet von dem Papier vor ihr und sieht in meine Richtung – ich glaube sie bemerkt mich nicht einmal – und lässt ihn auf der Uhr verharren, die an der Wand über meinem Rücken hängt. In diesem einen Augenblick, in dem ihre Augen am größten sind, spreche ich, von dieser Lektüre vergiftet, ein stummes „Nadja, ich liebe Sie!“ aus.
Die Sendung kann beginnen. Ich bedeute ihr mit einer deutlichen Handbewegung, dass sie im Äther ist. Sie fängt an unaufhaltsam zu plappern und sich mit dem ganzen Körper im Rhythmus der Musik zu pendeln. Sie summt und plaudert mit den Zuhörern, zwitschert und lacht wie verzaubert. Und während sie sich anderen hingibt, rufe ich das Bild derselben Nadja aus einigen früheren Begegnungen auf, auch wenn sie nur zwei Meter von mir entfernt ist.
molski

An diesen Tagen nahm ich mit ein paar Kollegen, unter ihnen auch Nadja, an Straßenprotesten teil. Nadja war immer wie ein Teenager angezogen, mit Buttons verziert (ich jedoch sah nur dieses eine auf dem „Ich liebe Sie auch!“ steht) und kleinen blaugelben Fähnchen, während ihr Hals von einer Schnur mit einer schwarzen Pfeife umfasst wurde. Als die Menschenmasse um uns herum pfiff, schloss sich Nadja ihr an.
Sie blies aus aller Kraft mit geschlossenen Augen in ihre Pfeife.
Auch dann inmitten eines schallenden Deliriums, schaffe ich es nicht meinen Mut zu sammeln und wenigstens ein leises „Nadja, ich liebe Sie!“ hervorzubringen.
Deswegen spreche ich diese vier Wörter (oh, sind es schon so viele?!) schweigend aus und verstecke sie auch vor mir selbst, ohne zu wissen, was sie in Wirklichkeit bedeuten sollen. Ob sie ein Gebet oder ein Schrei sind, oder nur ein Ventil, mit wessen Hilfe ich mein inneres Gleichgewicht reguliere.
Ich weiß nur soviel: diese Wörter vertreten etwas, wovor ich machtlos bin und von dem mir schwindelig wird. In meinen Träumereien gehe ich sogar soweit mir einzubilden wie Nadja ein rosafarbenes Mal unter dem Schlüsselbein besitzt.
(Dem Schlüsselbein!)
In diesem Augenblick endet die Sendung. Die Equipe zuständig für das Nachtprogramm nimmt unsere Plätze ein. Am Ausgang aus dem Radioräumen warte ich bis Nadja allen Kollegen ein Lächeln verteilt hat und sich zum Abgang anzieht und losgeht.
Endlich gehen wir heraus.
Im halbbeleuchteten Gang, suche ich, schon fast blind, an der Wand entlang nach einem Knopf für den Aufzug. Er kommt knarzend aus der Tiefe. Wir warten schweigend bis der Knopf anfängt zu leuchten.
Wir steigen ein.
Im Aufzug beobachtet Nadja sich im großen Spiegel und versucht wieder diese eigensinnige Strähne zu disziplinieren, macht einen Schmollmund, verbessert kleine Makel an ihrem Outfit. Als der Aufzug plötzlich anfängt unter uns in die Tiefe zu fallen, bleiben ihre Augen einen Augenblick lang wie versteinert (wahrscheinlich aus Angst), wie die einer Heiligen auf Fresken.
Sie können schon meine innere Stimme erraten. In der Unmöglichkeit irgendetwas anderes zu unternehmen, ruft sie leise und verzweifelt: „Nadja, ich liebe Sie.“
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, blinzelt sie aufgewühlt mit ihren Augenlidern, atmet tief ein und aus. Nach jedem Blinzeln, bleiben ihre Augen länger geschlossen als davor. Mein Gehör ist so präzise angepasst, dass ich das Blinzeln hören kann, das noch lange nach dieser Begebenheit in meinen Ohren hallen wird.
Dann bemerkt mich Nadja, in meinem trübseligen Zustand, neben sich, legt ihre Hand, die mir wie glühende Kohlen vorkommt, auf meine Schulter und sagt lässig:
„Wenn ich dich so traurig sehe, erlebe ich jedes Lächeln von mir wie eine Sünde.“
Wie soll man ihr beibringen – frage ich Sie nun – dass sie manchmal wie die Liebe meines Lebens aussieht?
Diese eine Liebe, die mir auch jetzt während ich das schreibe im Nacken sitzt. Die eine die ich, seit ich bewusst lebe, aus reiner Illusion und Meerschaum erschaffe.
Wenn Nadja dies lesen würde – würde sie mich hassen. Noch schlimmer wäre es wenn sie es mir glauben würde.
Glücklicherweise liest sie Geschichten nicht gern.
Einfach so, fange ich an rückwärts zu zählen, von neun an, und weiß, dass im Erdgeschoss dieses Gebäudes ein Ehemann und ungeduldige Kinder auf Nadja warten.
Morgen ist eine neue Sendung.

Aus dem Serbischen von
Tamara Golubović

mirko

 

 

Mirko Demić, Jahrgang 1964, ist ein serbischer Schriftsteller, sowie Herausgeber der Litreraturzeitschrift „Koraci“. Für das Buch „Molski akordi“ hat Demić den Andric-Preis 2009 bekommen. Für das Buch „Trezvenjaci na pijanoj ladi“ hat er den „Dejan Medakovic“-Preis (2010) erhalten. Er lebt in Kragujevac.

 

 

 

Tamara Golubović, geb. in Belgrad, Serbien. Studium der Anglistik/ Amerikanistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Übersetzungen aus dem Englischen und Serbischen, u.a. V. Aleksi, L. F. Baum, M. Finley, N. Rotar, A. York.


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